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Der Niederrhein wird preußisch
Die Verwaltungszugehörigkeit im 19. Jahrhundert |
Durch die Schlacht bei Leipzig am 18. Oktober 1813 und den Einmarsch preußischer und österreichischer Truppen in Paris am 31. März 1814 war Napoleon besiegt und er verzichtete am 12. April 1814 auf den Thron. Der neue französische König, Louis XVIII. schloß am 30. Mai den Frieden von Paris mit den Kriegsgegnern, in dem sich Frankreich auf die Grenzen von 1792 zurückzog.
In Kamp feierte man am 11. April 1814 mit einem Tedeum in der Kamper Pfarrkirche den Sieg und den Einzug in Paris. Frhr. vom Stein errichtete eine provisorische Verwaltung, das General-Gouvernement "Niederrhein" mit Sitz in Aachen. Dessen Leiter wurde am 10. März 1814 der in Kleve geborene Geheime Staatsrat Sack. Die Präfekten wurden durch Gouvernements-Kommissare, die Unterpräfekten durch Kreisdirektoren ersetzt und die Maires hießen nun Bürgermeister, die Munzipalräte Gemeinderäte. |
Diese Karte zeigt das Gebiet von Kamp-Lintfort am Ende des 19. Jahrhunderts
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Nach dem Wiener Kongreß 1815 kamen die linken Rheinlande zum Königreich Preußen. Der preußische König schritt rasch zur Tat, um die Organisation der neuen Gebiete vorzunehmen: noch von Wien aus erließ er am 5. April 1915 ein Patent und ordnete die Vereidigung der Beamten und der Gendarmerie an.
Eine Verordnung vom 30. April 1815 teilte ganz Preußen in Provinzen, Regierungsbezirke und Kreise ein. Die bisherigen Kreisdirektoren wurden durch "landrätliche Kreis-Kommissarien" (Landräte) ersetzt. Zunächst kam das heutige Stadtgebiet mit den früheren Kantonen Moers, Rheinberg und Xanten zum Kreis Rheinberg, der dem Regierungsbezirk Kleve zugeteilt wurde. Aber schon 1822 wurde der Regierungsbezirk aufgelöst und mit Düsseldorf vereinigt.
Im Jahre 1823 wurde der Kreis Rheinberg in den Kreis Geldern integriert, wo Frhr. Friedrich Clemens August von Eerde vom Haus Eyll Landrat war. 1824 wurden die sog. Provinzialstände errichtet: der Kreis Geldern zählte zur Rheinprovinz und die Ständeversammlung tagte in Düsseldorf. Erster Bürgermeister von Vierquartieren, der zuglich auch für die Gemeinde Kamp mit Hoerstgen und Eyll und auch für die Gemeinde Rheurdt zuständig war, wurde 1823 Bertram Scheffer. Ihm folgten Friedrich Cloudt (1823-1828) und Johann Karl Schroot (1828-1849).
Das Revolutionsjahr 1848 hatte auch Folgen für das heutige Stadtgebiet: weil sich einige zwielichtige Elemente vermummten, Erpressungen begingen und fremdes Eigentum zerstörten, wurde in Camp (damals schrieb der Ortsteil sich noch mit "C") eine "Sicherheits-Wache" als Bürgerwehr organisiert. Diese hielt Nachtwachen und schickte Patrouillen aus. Als Wachlokal diente die örtliche Schule. Bürgermeister in der Zeit von 1849 bis 1851 war Johann Wilhelm Jockram.
Auf Grund der Ereignisse des Jahres 1848 trat am 11. März 1850 eine neue Gemeindeordnung in Kraft, die vorsah, daß der Bürgermeister für 12 Jahre vom Gemeinderat gewählt wurde. Da sich die Gemeinden Vierquartieren und Kamp mit Hoerstgen und Eyll nicht auf einen gemeinsamen Bürgermeister einigen konnten, fiel der Gemeindeverbund auseinander. Als Bürgermeister für Kamp - Hoerstgen - Eyll wurde Heinrich Forthmann gewählt, der von 1851 bis 1863 im Amt war. Neuer Bürgermeister für Vierquartieren wurde Heinrich Forthmann (1851-1852), der Kirchenrendant von Lintfort war. Er bat aber im Folgejahr schon um seine Entlassung und Nachfolger wurden Heinrich Goertz (1852-1858) sowie Louis Sandkuhl (1858-1871).
1856 wurde der Kreis Geldern geteilt und die Gemeinden des alten Kreises Rheinberg bildeten mit einigen Orten des Krefelder Kreises den neuen Kreis Moers, der bis zur kommunalen Neuordnung in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts Bestand hatte. Am 13. Juli 1863 wurde Louis Sandkuhl auch zum Bürgermeister von Kamp (mit Hoerstgen und Eyll) ernannt.
Das heutige Stadtgebiet blieb bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts ländlich strukturiert, obwohl sich auch hier schon Mitte des 19. Jahrhundert die Vorboten einer neuen Zeit ankündigten: der Bergbau trat seinen Siegeszug an.
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Die Entwicklung des Schulwesens im 19. Jahrhundert |
Im Mittelalter waren die Kirchen Träger und Gründer von Erziehungsanstalten, die besonders der Ausbildung des kirchlichen Nachwuchses dienten. Später gab es auch Pfarrschulen. Eine Schulpflicht bestand nicht. Für die Schulgeschichte der Stadt sind die Abteischule des Klosters Kamp in Köln zur Ausbildung der Mönche) und die Pfarrschule "in der Herrschaft Camp auf'm Kirchhoff" in Kamperbrück wichtig.
Die Ursprünge dieser Schule gehen auf die Zeit vor 1650 zurück, als im Taufregister (das ab 1646 geführt wurde) erstmals ein Lehrer genannt wurde. Um Lehrer zu werden, bedurfte es keiner besonderen Ausbildung, da der Unterricht im Winter stattfand und meist vom Kirchendiener erteilt wurde. Das Schulgebäude wurde 1822 mit den dazugehörigen 4 Morgen Ackerland für rd. 435 Taler verkauft.
Die Volksschulbildung der Bevölkerung war dem preußischen Staat ein besonders Anliegen. Nach den Befreiungskriegen, als der Niederrhein preußisch wurde, ging der kirchliche Einfluß auch dadurch zurück, daß vom Staat ein Bildungskonzept entwickelt wurde. Die Bildung der Bevölkerung sollte auch auf dem Land durchgesetzt werden. Das Schulwesen wurde allerdings nur zögernd umgesetzt, was auch auf das Verhalten der Landbevölkerung zurückzuführen war.
An der Rheinberger Straße auf dem Kamper Berg entstand links der Lindenallee ein neues Schulgebäude, das als erste Schule auf den Stadtgebiet zu nennen ist, die von der Gemeinde gebaut wurde.
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Dieses Bild zeigt den Grundriß der Schule in Kamp
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Die erste Schule in Lintfort wurde 1828 an der heutigen Schulstraße (neben dem Anwesen des Schmiedemeisters Langen) errichtet. 1836 entstanden die Schule in Saalhoff, 1838/39 die Schule in Rossenray, vor 1831 die Schule in Hoerstgen und 1869 die Eugeniaschule in Kamperbruch.
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Dieses Bild zeigt die erste Schule der Schule in Lintfort
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Dieses Bild zeigt die erste Schule in Hoerstgen
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Die Postgeschichte des Postamtes Camp (bis zur Gründung des Deutschen Reiches)
Die Königlich Preußische Postexpedition in Camp (bis zum 31.12.1867) |
Das Königreich Preußen besaß eine eigene Posthoheit vom 18.1.1701 bis zum 31.12.1867. In Raum der ehemaligen Bürgermeistereien Camp, Hoerstgen, Lintfort, Kamperbruch, Rossenray und Saalhof, die am 1. April 1934 zur Großgemeinde Kamp-Lintfort zusammengeschlossen wurden, gab es um 1900 die drei Postexpeditionen Camp, Hoerstgen und Kamperbruch.
Am 1. Januar 1802 war ein Postkutschendienst eingerichtet worden, der Geldern, Rheinberg und Moers miteinander verband und auch Personen beförderte. In Kamperbrück gab es eine Haltestelle am Haus Müsers. Erst fast 50 Jahre später, am 26. März 1851 wurde in Hoerstgen beim Landbriefsammler Achterrath eine zweite und am 15. November 1854 eine dritte Haltestelle am Schulhaus in Kamperbruch errichtet. Vor dieser Zeit wurden die Briefe von Klosterboten, die als besonders zuverlässig galten, besorgt.
Die älteste Postexpedition (nebenberuflich verwaltete Poststelle) war in Camp. Das genaue Gründungsdatum ist aktenkundig nicht belegt, dürfte aber ca. 1850 gewesen sein. Lt. Aufzeichnungen der Oberpostdirektion Düsseldorf aus dem Jahre 1876 befand sich in Camp eine Postexpedition und ein Postbriefkasten, mit täglich zweimal ein- und ausgehenden Landposten.
Als Postverwalter sind namentlich bekannt Hermann Steegmann, Balthasar Bovenschen (bis 1879) und Werner Jockrahm (ab 1879). Postagent in Hoerstgen war im Jahre 1897 Heinrich Pousen.
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Die erste Briefmarke von Preußen erschien am 15. November 1850. Vom 15.11.1850 bis 31.03.1959 wurde ein Vierringstempel mit den Nummern 1 - 1964 und 1967 verwendet. Die Verteilung der Nummernstempel erfolgte Ende 1850 in alphabetischer Reihenfolge der Ortsnamen in der damaligen Schreibweise. "Camp" (Rheinland) verwendete den Stempel mit der Nummer "231", der - auf Grund des geringen Postaufkommens - äußerst selten ist. Die Marke ist die Michel-Nr. 2a hellgraurot bis hellrosa zu 1 Silbergroschen.
Es bestand damals kein Frankaturzwang: am Schalter aufgegebene Briefe, für die das Porto in bar entrichtet wurde, mußten nur bis zum 15.9.1851 mit Briefmarken beklebt werden. Nach diesem Tage wurde es untersagt und erst Anfang der 1860er Jahre fand wieder die Verrechnung durch Marken statt.
Die Postgebühren innerhalb Preußens betrugen vom 1.1.1850 bis zum 30.4.1861 ...
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Gewicht
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Bis 10 Meilen
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10-20 Meilen
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Über 20 Meilen
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Unter 1 Loth
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1 Sgr.
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2 Sgr.
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3 Sgr.
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Bis 2 Loth
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2 Sgr.
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4 Sgr.
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6 Sgr.
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Bis 3 Loth
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3 Sgr.
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6 Sgr.
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9 Sgr.
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Bis 4 Loth
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4 Sgr.
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8 Sgr.
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12 Sgr.
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Bis 8 Loth
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5 Sgr.
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10 Sgr.
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15 Sgr.
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Bis 16 Loth
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6 Sgr.
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12 Sgr.
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18 Sgr.
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Gewicht
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Bis 10 Meilen
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10-20 Meilen
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Über 20 Meilen
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Unter 1 Loth
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1 Sgr.
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2 Sgr.
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3 Sgr.
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Bis 15 Loth
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2 Sgr.
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4 Sgr.
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6 Sgr.
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Für spezielle Versandformen (z. B. zur Abholung vom Postamt durch den Empfänger, Massensendungen, Kreuz- und Streifbandsendungen, Wertbriefe etc.) galten besondere Spezialtarife. Für den Postverkehr mit Staaten des Deutsch-Österreichischen Postvereins galten Zuschläge bzw. die Portogebühren der Thurn- & Taxis-Post.
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"Mit Bezug auf die Verordnung der Königl. Regierung vom 21. Juni 1832 ad 3 u. 5 / Altgelt S167 / ersuche ich Euer Hochwürden ergebenst um gefällige Mittheilung, wann die Ferien bei den Elementarschulen Ihres Bezirks ihren Anfang nehmen und von welcher Dauer sie sein werden.Geldern, den 22. Juni 1853, der Landrath i. V. der Kreissekretär Schwartz
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An den Schulpfleger Herrn Pfarrer Wellesen, Hochwürden zu Eyll
Zudem ich Ihnen vorstehenden Erlaß, woran ich unterm 28. Juli vom Königl. Landrahtsamte bin erinnert worden, herimit in Abschrift zugehen lasse, bitte ich, mir den Anfang und die Dauer, welche sich jedoch gesetzlich nicht über 3 Wochen ausdehenen darf, gütigst baldmöglichst mittheilen. Regierung vom 3. Dez. 1839 / Altgelt S. 201 / desmal am Schluße des Schulsemesters eine öffentliche Entlassungs-Prüfung im Beisein des Schulvorstandes abzuhalten ist.
Der Schulpfleger Wellesen"
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1828 schon wurden vom Preußischen General-Postamt Briefausgabestempel eingeführt und später durch Ortstempel als Ankunftsstempel ersetzt. Beim nachfolgenden Brief ist ein Ausgabestempel (Ausg. 11.10. Nr.) abgeschlagen. Dieser Stempel besagt, daß der Brief am 11.10.1866 beim ersten Bestellgang dem Herrn Hubert als Adressaten zugestellt wurde.
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Ein am Schalter aufgegebener Tax-Brief nach Moers aus dem Jahre 1866, für den das Porto in bar entrichtet werden mußte. Bei dem Rechteckstempel ist zu beachten, daß sich in der 3. Zeile das Aufgabedatum befindet, jedoch steht rechts die Jahreszahl und nicht - wie üblich - die Uhrzeit
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Der folgende Brief wurde am 27.12. (lt. Ankunftstempel) in Krefeld zugestellt. Das Besondere ist das Aufgabedatum (26.12.1867), was zeigt, daß in Camp derzeit also auch am 2. Weihnachtstag Postsendungen aufgegeben bzw. bearbeitet wurden.
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Brief von Camp nach Crefeld, frankiert mit 2 Silbergroschen und entwertet mit dem dreizeiligen Kastenstempel "Camp, R. B. Düsseldorf, 26.12.67, 3-4 Uhr"
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Die Postexpedition in Camp zur Zeit des Norddeutschen Postbezirks (1868-1870) |
Durch den Deutschen Krieg von 1866 war der Deutsche Bund zerschlagen worden und noch vor Kriegsende (nämlich am 18. August 1866) schlossen Preußen und 17 weitere deutsche Staaten sowie die Hansestädte einen Vertrag zur Gründung des Norddeutschen Bundes.
Postalisch wurde der "Norddeutsche Postbezirk" gegründet und die bis dahin eigenständigen Postbezirke der Königreiche Preußen und Sachsen, der Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und Oldenburg sowie der Freien Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck wurden lt. "Gesetz über das Postwesen im Gebiet des Norddeutschen Bundes" vom 2.11.1867 und das "Gesetz über das Posttaxwesen im Gebiet des Norddeutschen Bundes" vom 4.11.1867 mit Wirkung vom 1. Januar 1868 zusammengeführt.
Für den Gebrauch im Innendienst wurden in Preußen noch bis zum 28.2.1869 die Marken mit den Michel-Nummern 20 und 21 weiterverwendet. Ansonsten wurden - bis zur Gründung des Deutschen Reiches am 1.1.1871 - eigene Marken des Norddeutschen Postbezirks verausgabt, die bis zum 31.12.1874 Gültigkeit besaßen.
Die Postgebühren des Norddeutschen Bundes im Inland vom 1.1.1868 bis zum 31.12.1874 betrugen ...
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Briefe
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Gewicht
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Gebühr
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Bis 1 Loth / 15 Gramm
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1 Gr. bzw. 3 Kr.
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Über 1 Loth bis 250 Gr.
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2 Gr. bzw. 7 Kr.
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Correspondenzkarten/Postkarten
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Datum
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Gebühr
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Bis 30.6.1872
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1 Gr. bzw. 3 Kr.
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Ab 1.7.1872
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½ Gr. bzw. 2 Kr.
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Drucksachen
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Datum / Gewicht
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Gebühr
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Bis 30.6.1872
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Je 2,5 Loth / 40 Gr.
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1/3 Gr. bzw. 1 Kr.
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Bis 30.6.1872
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Über 200 Gr. - 500 Gr.
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2 Gr. bzw. 7 Kr.
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Ab 4.11.1871
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Über 200 Gr. - 500 Gr.
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3 Gr. bzw. 11 Kr.
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Ab 1.7.1872
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Je 50 Gr.
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1/3 Gr. bzw. 1 Kr.
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Ab 1.7.1872
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Über 200 Gr. - 500 Gr.
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3 Gr. bzw. 11 Kr.
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Für spezielle Versandformen (z. B. Zustellgebühren für Ortssendungen, für Sendungen in den eigenen Landzustellbezirken, Wertbriefe, Eilzustellungen etc..) galten besondere Spezialtarife.
Für den OPD-Bezirk Berlin (der für Preußen zuständig war) galten besondere Gebühren:
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Briefe
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Gewicht
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Gebühr
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Bis 15 Gramm
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1 Gr.
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Über 15 Gr. bis 250 Gr.
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2 Gr.
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Correspondenzkarten/Postkarten
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Datum
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Gebühr
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Bis 30.6.1872
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1 Gr.
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Einschreibegebühr
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Datum
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Gebühr
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Bis Ende der Posthoheit des Norddt. Postbezirks
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1 Gr.
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In unserem Stadtgebiet wurde aber nicht nur Post innerhalb Deutschlands, sondern auch ins Ausland verschickt, wie der folgende Brief zeigt. Bei dem roten Stempel "P D" (P D = französisch für "paye à destination", zu deutsch "Porto bezahlt bis zum Bestimmungsort") handelt es sich um einen Nebenstempel, der besagt, daß die Gebühr vom Absender bis zum Wohnort des Empfängers vorausbezahlt wurde. Dies war besonders beim grenzüberschreitenden Postverkehr wichtig, jedoch nicht immer möglich. Der Empfänger hätte sonst eine entsprechende Nachgebühr zu bezahlen, die durch Transitgebühren sehr hoch ausfallen konnte.
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Die Wirtschaft und Gesellschaft im 19. Jahrhundert
Das ländliche Leben in unserer Heimat |
In Bezug auf die Besiedlung blieb die Gegend von Kamp-Lintfort vom Mittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu unverändert. Aus einzelnen Gehöften, die weit verstreut lagen, hatten sich einige kleinere Ortschaften gebildet: so um das Kloster Kamp, in Kamperbrück und Hoerstgen. Landwirtschaft und Handwerk bestimmten das ländliche Leben. Es gab auch viele Tagelöhner, die auf dem Feld bei der Ernte, als Holzfäller etc. arbeiteten. |
Federzeichnung einer Katstelle aus dem Jahre 1922 |
Die Bevölkerung war meist von Gutsherren oder Kirchen abhängig. So verfügte Kloster Kamp bis zur Säkularisation durch Napoleon über ca. 150 Leibgewinnsgüter und Katstellen. Neben Leibeigenen gab es auch Pächter. Das Kloster hatte einen großen Teil der Ländereien in Erbpacht gegeben und erhielt dafür Renten und Zinsen.
Die Höfe trugen in der Regel den Namen des Bewirtschafters und der Anbau auf den Feldern erfolgte als Dreifelderwirtschaft, d. h. im dreijährigen Wechsel mit Winter-, Sommergetreide und Brachland. Üblicherweise wurde der Zins immer am 11. November, dem Martinstag entrichtet. Wenn ein Bauer das Recht hatte, Kleinvieh zu halten, konnte er seine Produkte wie Eier, Obst, Blumen oder gepflückte Beeren auf den städtischen Märkten verkaufen.
Die Leinengewinnung und das Töpfern waren am Niederrhein ebenfalls weit verbreitet. Die Töpfereien lagen meist auf und um die Höhenrücken, da die Töpfer des 17. und 18. Jahrhunderts auf den Bergton angewiesen waren. Das Handwerk wurde meist im Winter als Nebenerwerb zur Landwirtschaft betrieben. Man stellte meistens Gebrauchsgegenstände her, die aber immer häufiger mit Verzierungen versehen waren. Nach und nach bildeten sich auch Töpferfamilien heraus, wobei das Handwerk immer von Vater auf die Söhne bzw. auf die eingeheirateten Schwiegersöhne weitergegeben wurde. Es gab Töpfer in Kamp, Kamperbrück, Saalhoff, Lintfort und Wickrath.
Bekannte Töpferfamilien waren die Familie Murmanns auf Murmanns Kat "in der lathschaft aufm Weg nach dem hörstgen gelegen" mit 17,5 Morgen Land, die Familie Potten mit 3,75 Morgen an der Grenze zu Hoerstgen, in Kamp die Familie Schroers, die in "Poetbeckers Kat" am Altfeld lebte und einen halben Kölnischen Morgen Land hatte, die Familie Bringmann, "den Pannenbäcker in Berlach" mit 2 Morgen, in Saalhoff die Familien Kremers, Arns und Heinrich Schumacher und in Kamperbruch die Töpfer Johann, Heinrich und Wilhelm Huppertz. In Lintfort töpferte eine Familie Evers, die aus Schaephuysen stammte. In Wickrath besaß die Familie Hamans eine große Töpferei.
Von besonderer Bedeutung waren auch die Nachbarschaften. Man half sich gegenseitig bei der Ernte, bei Krankheit oder beim Bauen. Selbstverständlich feierte man auch zusammen. Wurde z. B. geschlachtet, so lud man die Nachbarn zum "Poggen-Bluttrinken" ein. Man schätzte das Gewicht des Schlachttieres und trank dabei Korn, das sog. "Poggenblut". Auch bei Familienfesten waren die Nachbarn dabei, wenn es galt eine Verlobung zu feiern, einen Geburtstag oder einen Hochzeitstag. Ohne Einladung kam man in Todesfällen zusammen, um die Arbeiten, die zu erledigen waren, unter sich aufzuteilen, aber auch, um den Verstorbenen drei Tage zu betrauern. Nach der Beerdigung gab es dann noch eine Nachfeier mit einer Kaffeetafel. |
Die Bevölkerungsentwicklung im 19. Jahrhundert |
Die unter der französischen Herrschaft erstellten Einwohnerverzeichnisse des Jahres 1801 weisen für die damaligen Gemeinden Camp, Hoerstgen, Camperbruch, Lintfort, Rossenray und Saalhoff insgesamt 1.772 Bewohner aus. Rein statistisch betrachtet, lebten seinerzeit auf 1 qkm nur rund 31 Personen. Charakteristisch für das ländliche Wirtschafts- und Sozialgefüge gegen Ende der Feudalordnung war der Umstand, daß die meisten Bauern den Hof zusammen mit den engsten Familienangehörigen bewirtschafteten. Haus- und Hofbedienstete begegneten auf dem Kamp-Lintforter Gebiet um 1800 keineswegs regelmäßig. Fünf Knechte oder Mägde wie z. B. auf dem Hof des Pächters Guilleaume Halfmann in Camperbruch, auf dem Behmer-Hof in Rossenray oder dem Forthmanns-Hof in Lintfort waren Ausnahmen. Nicht selten fanden sich unter den Knechten und Mägden Verwandte des Bauern sowie Söhne und Töchter benachbarter Gehöfte und Katen. Die Erwerbsstruktur - sie wurde ermittelt anhand der Einwohnerverzeichnisse für 1803 - war eindeutig und gefestigt. Mit 34,77 Prozent stellten die Ackersleute und Pächter die größte Berufsgruppe, dicht gefolgt von den Tagelöhnern (30,46 Prozent) sowie von den Knechten und Mägden (22,27 Prozent). |
Jene nur 12,50 Prozent der 696 Berufstätigen auf Kamp-Lintforter Gebiet, die im Jahre 1803 ihren Lebensunterhalt nicht unmittelbar aus der Landwirtschaft bestritten, verteilten sich insbesondere auf den Klerus bzw. auf ehemalige Mönche und Nonnen der 1802 aufgelösten Klöster Camp und St. Barbaragarten in Rheinberg, auf Kleinhändler, Hausierer, Schulmeister und Medizinalberufe sowie auf den handwerklichen Bereich. Zu bedenken ist dabei aber natürlich, daß oft zumindest noch eine weitere Tätigkeit ausgeübt wurde bzw. ausgeübt werden mußte. Der Umfang der nebenberuflichen Seiden- und Leinenweberei beispielsweise fand 1803 keinerlei statistischen Ausdruck. Insgesamt muß also von einem vielschichtigeren Erwerbsspektrum ausgegangen werden, als es die Statistik zunächst vermittelt.
Im Jahre 1828 zählte man auf dem Kamp-Lintforter Gebiet bereits 3.043 Einwohner, die sich auf 420 Wohnhäuser verteilten. Dabei entfielen auf Camp 901 Einwohner und 108 Häuser, nämlich neun auf dem Kamper Berg, 14 in Kerkhof, 19 in Wickrath, welches am Rheurdt grenzt, 20 in Gähm, wobei diese untergegangene Flurbezeichnung die Gegend zwischen Kamperbrück und Hoerstgen meint, 22 in Altfeld und 24 in Brück. In Hoerstgen wiederum lebten 582 Menschen, davon neun auf Haus Frohnenbruch. In den Gemeinden Vierquartierens schließlich gab es 216 Wohnhäuser und 1.560 Einwohner, die meisten davon in Saalhoff. Ferner lebten 47 Einwohner Vierquartierens in acht Häusern der ärmlichen "Colonie Bönninghardt", beachtliche 21 auf dem "ädeliche(n) Gut Eyl" sowie acht bzw. sechs auf den Häusern Dieprahm in Lintfort und Heideck in Saalhoff.
Insgesamt ist die Entwicklung von der Wende zum 19. Jahrhundert bis in die sechziger Jahre hinein gekennzeichnet durch ein relativ starkes Wachstum der hiesigen Einwohnerschaft. Zwischen 1801 und 1865 wuchs die Kamp-Lintforter Bevölkerung um 139,98 Prozent auf 4.093 an. Der Siedlungsschwerpunkt lag dabei stets in Camp, gefolgt von Hoerstgen, Saalhoff, Camperbruch, Lintfort und Rossenray. Die Ursachen für den festgestellten Bevölkerungszuwachs werden u. a. vor allem in der von der französischen Gesetzgebung eingeführten Zuzugs- und Niederlassungsfreiheit, aber auch im allgemeinen Rückgang der Sterblichkeit bei gleichzeitigem Anstieg der Lebendgeburten liegen. |
In den Jahren von 1843 bis 1850 wurde die Provinz Rheinland erstmals im Maßstab 1 : 25.000 aufgenommen. Das Blatt Rheinberg der Uraufnahme zeigt auch Teile des heutigen nördlichen Stadtgebietes (1843) |
Etwas ab 1865 ist dann ein durchaus beachtlicher Bevölkerungsrückgang zu beobachten, der sich bis zur Jahrhundertwende fortsetzt: die Einwohnerzahl sank in dem genannten Zeitraum um immerhin 10,32 Prozent von 4.098 auf 3.675, während der Zuwachs im Reichsdurchschnitt nahezu 48 Prozent, in Preußen 86,49 Prozent, in der Rheinprovinz 78,53 Prozent und am linken Niederrhein 27,13 Prozent betrug. Insgesamt hat sich also die Einwohnerzahl auf dem Kamp-Lintforter Gebiet von den Sechziger Jahren bis hin zur Jahrhundertwende tendenziell untypisch entwickelt. |
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kam es auf dem Kamp-Lintforter Gebiet zu einem für die damalige Zeit allgemein untypischen Bevölkerungsrückgang |
Die Hintergründe für diese Entwicklung lassen sich anhand der gegebenen Quellenlage nicht abschließend aufdecken. Am wahrscheinlichsten erscheint ein Abwanderungsverlust, dessen Motor die Industrialisierung des östlichen Kreisgebietes war. Aber auch die Landwirtschaftskrisen und der Niedergang der Seiden- und Leinenweberei, die insbesondere in Hoerstgen eine gewisse Bedeutung hatte, werden sich ausgewirkt haben. |
Auf dem Blatt Moers der Neuaufnahme erscheint der spätere Siedlungsschwerpunkt Lintfort noch als ein von der Großen Goorley durchflossenes Niederungsgebiet mit verstreut liegenden Höfen (1892) |
Die soziale bzw. berufliche Zusammensetzung der einheimischen Bevölkerung hatte sich im Laufe von 100 Jahre kaum geändert. Ende des 19. Jahrhunderts waren in den sechs Gemeinden 69,30 Prozent der erfaßten Erwerbspersonen "Äckerer und Gutsbesitzer". Weitere 14,59 Prozent gingen einem Handwerk nach. Unter den übrigen Berufstätigen begegnet man vor allem Händlern sowie randständig vertretenen Gruppen, darunter ein Arzt, zwei Musiker, zwei Polizisten, drei Hausierer und immerhin acht Lehrer.
Nennenswerte Wandlungen sind somit während des 19. Jahrhunderts nicht eingetreten. Um 1900 lebten in Camp und in Hoerstgen insgesamt nach wie vor rund die Hälfte aller Einwohner, während die Streusiedlungen Lintfort und Camperbruch zusammen nur ein Viertel der Gesamtbevölkerung stellten. Siedlungs- und Bevölkerungsstruktur sollten sich jedoch im Zuge der Industrialisierung durch den Steinkohlenbergbau in grundlegender und bis heute wirksamer Weise verändern. |
Der Tourismus in Kamp ab 1884 |
Schon in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Kamp das, was man heute als Tourismus bezeichnet. Über "auswärtige Gesellschaften" aus Krefeld, die in Kamp gesichtet wurden, berichtet Hauptlehrer Christian Krey (1819 - 1900) erstmals am 16. März 1884, einem für die Jahreszeit außergewöhnlich schönen Sonntag, in der von ihm angelegten und geführten Schulchronik. Ein Jahr später, "im Spät-Sommer bis halben Sept(ember)", gab es wieder "viel Fremden-Besuch" und sogar "Kurgäste", die nach seinen Beobachtungen vor allem bei Müsers in Kamperbrück, bei Wittfeld an der Klosterstraße und bei Bieger am Abteiplatz logierten. "An einzelnen Tagen besonders Sonn- und Feiertagen, größere Gesellschaften, Vereine aller Art, Familien aus Nähe und Ferne in Menge, sodaß nicht alle, besonders bei Müsers, Aufnahme finden konnten".
Pfingsten 1886 jedoch erlebte "unser schönes Camp einen noch nie dagewesenen zahlreichen Fremden-Besuch. Bis spät in den Abend hinein boten Massen-Promenaden über den Abteiplatz und durch den Wald ein belebtes Bild menschlichen Treibens und Vergnügens. Bei Wittfeld unter den Linden traf man mehr denn 10 Wagen in Livrée; überhaupt war dort die Haute volée vertreten. Bei Müsers war die Zahl der Gäste nicht geringer; man mußte Privat-Häuser zu Hülfe nehmen. Und so ging es an Sonn- und Feiertagen bis zum Herbste. Aber auch die Zahl der stets Hierbleibenden war eine noch nie dagewesene. Einer unter den Anwesenden, Dr. med. Jacobi aus Crefeld, soll erklärt haben, man solle für eine größere Aufnahme Vorkehrungen treffen, denn er halte Camp der Waldes- und Bergesluft wegen und auch noch aus anderen Gründen zur Erholung und zum Aufenthalte für Rekonvaleszenten usw. geeigneter als die Schweiz u.a. Orte". Pfingsten 1888 "zeigten sich auch wieder Fremde hier. Bei Müsers sollen 80 Personen zu Tische gewesen sein, bei Wittfeld's 40, und bei Bieger's 7", notierte der aufmerksame Krey.
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Die postgeschichtliche Entwicklung von der Gründung des Deutschen Reiches bis zur Jahrhundertwende
Das Postamt Camp bis zur Jahrhundertwende |
Am 1. August 1878 wurde die Kamper Posthaltestelle in eine Postagentur (Postnebenagentur) umgewandelt. Sie war im Bowenschen Haus (Gaststätte Kleinlosen) untergebracht, aber schon am 1. August 1879 wurde sie auf den Abteiplatz verlegt und dem Postagenten Werner Jockram übertragen. Nach dem Tod vor Werner Jockram verwaltete der Sohn Wilhelm die Postagentur bis 1937. Die Postsendungen gingen einmal täglich von Geldern und Moers ein. Am 1.9.1881 wurde eine Telegraphenbetriebsstelle mit beschränktem Tagesdienst bei der Postagentur Camp errichtet. Da wegen des Beginns der Abteufarbeiten auf der Zeche ein starker Zuzug neuer Arbeitskräfte der Dienst des Postagenten Jockram stark erschwert wurde, wurden seine monatlichen Bezüge (Lohn und Miete) im Jahre 1899 auf 45,- RM angehoben Bis zum 31.7.1904 war das Postamt Moers das Abrechnungsamt für Camp. Ab dem 1.8.1904 wurde Camp dem Postamt Rheinberg unterstellt.
Mit der Gründung des Deutschen Reiches am 1.1.1871 änderte sich zunächst für den Norddeutschen Postbezirk nichts, da auch den süddeutschen Ländern Baden, Bayern und Württemberg Sonderrechte zugestanden worden waren. Es gab zunächst noch vier Postverwaltungen, die eigene Briefmarken verausgaben durften. Mit Erlaß vom 12.5.1871 wurde das Bundeskanzleramt zum Reichskanzleramt und dessen II. Abteilung wurde so vom Generalpostamt des Norddeutschen Postbezirks zu dem der Deutschen Reichspost. Die Ausgabe eigener Briefmarken wurde am 27.4.1871 verfügt, aber die ersten Briefmarken mit der Inschrift "Deutsche Reichspost" wurden erst am 1.1.1872 verausgabt.
Bis zum 31.12.1874 galten zunächst noch die alten Postgebühren. Bis zum 31.12.1871 durften noch die Marken des Norddeutschen Postbezirks weiterverwendet werden. Daß es aber auch zur Zeit des Deutschen Reiches noch Briefe ohne Briefmarken gab, zeigt das folgende Beispiel. Der Brief ist mit einem roten Auslagenstempel versehen, wobei der Begriff "Auslage" mit "Postvorschuß" (einer Art Vorläufer der Nachnahme) zu erklären ist. Er unterschied sich von dieser aber dadurch, daß der Betrag nicht erst nach Einzug beim Empfänger an den Absender überwiesen, sondern schon bei der Briefaufgabe ausgehändigt wurde: die Post trat also in Vorleistung und war eigentlich nur für Behörden zulässig, aber auch bei Privatpersonen zulässig. 1856 wurde in Preußen die Nachnahme eingeführt, die auch heute noch üblich ist. |
Das Postaufkommen in Camp (ausgenommen Wertsendungen) setzte sich im Jahr 1876 wie folgt zusammen:
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17.600 eingegangene Briefe
10.300 aufgegebene Briefe
2.000 eingegangene Pakete
1.100 aufgegebene Pakete
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Postalische Belege wie z. B. Postzustellungsurkunden gab es natürlich auch aus Camp. Auf einer Zustellungsurkunde bestätigt der Postbote zu Camp, Herr Hellenbrand, daß er den Brief dazu eigenhändig dem Adressaten übergeben hat. Der Gerichtsvollzieher Baedekerl in Rheinberg mußte 30 Pfg. Nachporto entrichten.
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Die Postgebühren des Deutschen Reiches im Inland betrugen vom 1.1.1875 bis zum 31.3.1900 ...
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Briefe
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Gewicht
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Gebühr
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Bis einschließlich 15 Gramm
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10 Pfg.
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Über 15 bis einschließlich 250 Gr.
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20 Pfg-
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Ortbriefe, Briefe im Landbestellbezirk
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5 Pfg-
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Unfrankierte Briefe
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Zuschlag 10 Pfg.
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Unzureichend frankiert Briefe
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Fehlporto + Zuschlag 10 Pfg.
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Postkarten
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Gewicht
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Gebühr
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Generell
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5 Pfg.
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Drucksachen
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Bis einschließlich 50 Gr.
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Ab 1.1.1875
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3 Pfg.
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Ab 1.1.1890
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3 Pfg.
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Über 50 bis einschließlich 100 Gr.
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5 Pfg.
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Über 50 bis einschließlich 250 Gr.
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10 Pfg.
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Über 100 bis einschließlich 250 Gr.
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10 Pfg.
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Über 250 bis einschließlich 500 Gr.
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20 Pfg.
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20 Pfg.
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Über 500 bis einschließlich 1.000 Gr.
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30 Pfg.
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30 Pfg.
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Für besondere Versendungsarten (z. B. Eilzustellung, Rückschein, etc.) galten besondere Gebühren. Bei Auslandspostsendungen waren die Gebühren für Briefe, Postkarten und Pakete bis zum 30.6.1875 (Inkrafttreten des Vertrages über den "Allgemeine Postvereine" - als Vorläufer des Weltpostvereins unterschiedlich, danach galt eine festgelegte Gebührenordnung:
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Briefe je 15 Gr.
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20 Pfg.
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Postkarten
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10 Pfg.
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Drucksachen je 50 Gr.
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5 Pfg.
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Einschreibgebühr
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20 Pfg.
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Rückschein
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20 Pfg.
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Zur Zeit des Deutschen Reiches wurden auch schon Postkarten als Ganzsachen verwendet. Bis zum 31.12.1874 gab es im Deutschen Reich noch zwei Währungen: im Norden 1 Thaler = 30 Groschen und im Süden 1 Gulden = 90 Kreuzer.
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Am 1.1.1875 wurde als einheitliche Währung 1 Mark = 100 Pfennig eingeführt. Ab Juni 1882 wurde auf Karten unten rechts eine drei- oder vierstellige Zahlenkombination gedruckt, wobei die erste Ziffer den Monat, die beiden letzten Ziffern das Druckjahr bezeichnet. Die folgende Karte wurde also im Januar 1894 gedruckt.
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Postkarte, entwertet mit Rechteckstempel "Camp, RGB Düsseldorf" vom 22.3.1884; der Ankunftstempel "Leipzig I" datiert vom 23.3.1884
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Nach dem Vierringstempel aus Preußen mit der Nummer "231" und dem Kastenstempel kam in Camp ein Einkreisstempel zum Einsatz, der vom 1.4.1900 bis zum 1.8.1916 verwendet wurde.
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Postkarte mit Marke der Ausgabe "Germania Reichspost" mit Einkreisstempel "Camp", der am 20.7.1900 zwischen 7 und 8 Uhr entwertet wurde; der Ankunftstempel "Duisburg" datiert vom 21.7.1900, 12-1 Uhr mittags
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Sog. "Damenbrief", von Camp nach Berlin-Wilmersdorf gelaufen; abgestempelt am 18.2.1902
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An die Stelle der kaiserlichen Postwagen, die zwischen Kamp und Moers bzw. Geldern verkehrten, trat am 15.8.1904 die Privatpost Kamp-Rheinberg, die von Clemens Müsers in Kamperbrück, Hoerstgener Straße, betrieben wurde. Am 1.4.1905 wurde die Privatpostverbindung Kamp-Geldern eröffnet, die ebenfalls durch Clemens Müsers gestellt wurde.
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Die Postagentur in Hoerstgen |
Die Postagentur Hoerstgen wurde am 1.5.1888 zur Entlastung der Postnebenstelle Camp errichtet und von dem Postagenten Johann Buyken geführt. Abrechnungsamt war bis zum 30.4.1910 das Postamt Geldern. Anschließend war das Postamt Moers zuständig. Postsendungen kamen inzwischen zweimal täglich durch die "Kaiserliche Post" aus Geldern und Rheinberg an. Am 29. Juni 1890 erhielt Hoerstgen auch eine Telegraphenbetriebsstelle mit beschränktem Tagesdienstbetrieb.
Aus der Frühzeit zeugt eine Karte mit den Kreisstempeln von Camp (vom 6.6.1902 / 9-10 Uhr nachmittags) und Hoerstgen (vom 7.6.1902 / 2-6 Uhr nachmittags):
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Postkarte aus Ebernburg über Camp (Bornhofen / Rheinland) nach Hoerstgen
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Die Postagentur in Kamperbruch |
Die Postagentur in Kamperbruch wurde am 1. April 1901 gegründet und bestand bis zu ihrer Auflösung am 1. Oktober 1920. Sie war beim Landwirt Heinrich Hendricks, Rheinberger Straße 37 untergebracht. Am 26. Mai 1902 wurde dort eine öffentliche Fernsprech- und Telegraphenunfallmeldestelle eröffnet.
Der Stempel vom 7.6.1904 / 7 - 6 V auf einer roten 10-Pfennig-Germania-Marke des Deutschen Reiches stammt aus der Frühzeit dieser Postagentur, die beim Landwirt Hendricks untergebracht war.
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Die Ursprünge des Bergbaus in Kamp-Lintfort
Die Entstehung des Namens "Friedrich Heinrich" |
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in der Fachwelt noch keine gesicherten Erkenntnisse darüber, ob sich das Steinkohlengebirge des Ruhrgebietes auch links des Rheines fortsetzt. Manche glaubten, der Rhein bilde eine geologische Grenze.
Schon 1851 war erstmalig eine Konzession für ein Grubenfeld bei Homberg beantragt worden, weil man vermutete, daß es dort vielleicht doch eine linksrheinische Fortsetzung des Steinkohlengebirges geben würde. Die Bohrungen wurden maßgeblich vom Kommerzienrat Franz Haniel vorangetrieben und im Mai 1854 stieß man in 155 m Tiefe auf dieses Gebirge und wurde bei 175 m fündig. Damit war der erste Nachweis für Kohlenvorkommen am linken Niederrhein erbracht und zwanzig Jahre sollte die eigentliche Geburtsstunde des Bergbaus auf dem Kamp-Lintforter Gebiet schlagen.
1857 waren Konzessionen für die Kohlefelder Rheinpreußen, Diergardt und Verein verliehen worden und 1862 erhielt der bald darauf geadelte Viersener Textilindustrielle Freiherr Friedrich von Diergardt zusammen mit den Kaufleuten Ferdinand Stein in Düsseldorf und Franz Wilhelm Königs in Köln den Zuschlag für das Feld Humboldt, das die beachtliche Größe von 93,9 Mio m aufwies. Bis zur Einführung des Allgemeine Preußischen Bergrechts im Jahre 1865 galt am Niederrhein noch das französische Bergrecht, das sehr große Steinkohlenfelder zuließ.
Nachdem Freiherr von Diergardt 1869 starb, wurde 1874 das Feld Humboldt in drei Teile geteilt und sein Sohn Friedrich Heinrich erhielt den östlichen Teil, für das er seinen Vornamen als Bezeichnung wählte. Die ihm am 23. Juni 1874 verliehene Berechtsame Friedrich Heinrich erstreckte sich anfänglich auf einer Fläche von 29,4 Mio m. Es bestanden anfangs also die heute als Friedrich Heinrich 1, Friedrich Heinrich 2 und Friedrich Heinrich 4 bekannten Felder, denn erst 1909 wurde das Feld Friedrich Heinrich 3 hinzugekauft.
Als er 1887 starb, zeigten sich seine Erben am Bau einer Zeche allerdings wenig interessiert und so wurden die Bergrechte 1906 an ein französisches Konsortium unter Führung der Pariser Bank "Société Générale de Crédit Industriel et Commercial Société Anonyme" verkauft. Zeit seines Lebens hatte auch Friedrich Heinrich von Diergardt nie versucht, näheren Aufschluß über die Lagerstätten seines Feldes zu erlangen. |
Überhaupt waren im 19. Jahrhundert die Bohrungen verschiedener Gesellschaften von vielen Enttäuschungen und Rückschlägen verfolgt. Obwohl damals schon die ersten Steinkohlenfelder verliehen wurden, verzögerten die großen Schwierigkeiten, die beim Abteufen der Homberger Schächte entstanden waren, zunächst weitere Aktivitäten. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm man die Bohrungen wieder auf, zumal eine Sperre der Abbaurechte anstand, die 1907 als sog. "Lex Camp" Gesetz wurde.
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Die Bohrungen in Kamp-Lintfort |
Bereits am 6. Mai 1897 genehmigte der hiesige Bürgermeister Josef Nolden die Aufstellung eines Bohrturmes westlich des Pauen-Hofes in Saalhoff. Die auf Steinkohle und Steinsalz niedergebrachte Mutungs- und Aufschlußbohrung Saalhoff 1 lag in Händen der Firma Thumann aus Halle/Saale. Ferner stand 1897 ein Bohrturm in Camperbruch in Höhe der Einmündung der heutigen Wiesenbruchstraße in die Rheinberger Straße. Weitere Mutungen ließen die Gebrüder Stein zwischen 1898 und 1906 niederbringen, so u. a. in der Bönninghardt sowie nahe der "Struckenschen Villa" (Haus Heideck), in Camp im nördlichen Bereich der Kreuzung von Rheinberger Straße und späterer B 510 sowie in Rossenray nordöstlich und nordwestlich des Witthofes.
Bevor die Erben von Friedrich Heinrich Diergardt die Bergrechte verkauften, unternahmen auch sie 1901 bis 1904 vier Aufschlußbohrungen: Lintfort 1 am südöstlichen Rand des späteren Zechengeländes, wo in 330 m Tiefe das Steinkohlengebirge erreicht wurde, Camp 1 in der Ebene zwischen Camperbrück und Niedercamp, Camp 2 im Süden Lintforts nordöstlich des Hauses Eyll und Rossenray nördlich des Nimmendohr-Hofes. Es wurden Flöze mit Eß- und Festkohle gefunden, die zwischen einigen Zentimetern bis zu 2,50 m dick waren. Die Wahl dieser vier Bohrpunkte trug zum einen der Nord-Süd- sowie der Ost-West-Erstreckung des Feldes und zum anderen den vermuteten geologischen Vorfindlichkeiten Rechnung.
Bevollmächtigter der französischen Bankengruppe, die am 14. August 1906 das Grubenfeld Friedrich Heinrich erwarb, war der Bankier Albert de Montplanet, der auch erster Aufsichtsratsvorsitzender werden sollte. Von ihm zeugt heute noch die "Montplanetstraße", die vom Alten Rathaus zur Josefkirche führt.Am 1. Oktober 1906 wurde von 27 Interessenten - darunter 23 Franzosen - in Düsseldorf die "Steinkohlenbergwerk Friedrich Heinrich AG" bzw. "Charbonnage Frédéric Henri SA" gegründet, zu deren Mitgesellschaftern u. a. Max Trinkaus aus Düsseldorf, Alfred Kossmann aus Frankfurt und die "Allgemeine Elsässische Bankgesellschaft" in Straßburg gehörten. Das französische Interesse lag darin begründet, daß man in Frankreich zwar über Erz, aber nicht über verkokbare Kohle für die Erzverhüttung verfügte. Das Gründungskapital betrug 14 Millionen Mark und war in 14.000 Namensaktien ausgegeben. Ende Oktober 1906 wurde dem Bergwerkdirektor Franz Brenner (siehe Bild!) der Vorstand der neuen Aktionsgesellschaft übertragen. Ihm zur Seite stand ab April 1907 der Kaufmann Albert Spaeth. Brenner war ein Mann von großem technischen Weitblick, der auf eine großzügige Planung und den Aufbau einer Zeche im Ortsbild von Lintfort achtete.
Zu Beginn des Jahres 1907 berichtete die Tagespresse - so z. B. die Rheinberger Zeitung vom 8. Januar 1907 - in einer kleinen Notiz: "Auf der sogenannten Kleinheide, in der Nähe der Lintforter Schule, sind die Stellen festgelegt, wo die Schachtanlage geplant ist. Die beiden Schächte liegen sehr nahe beieinander. Es sollen schon bedeutende Abschlüsse mit Fuhrunternehmen getätigt sein, um die vorerst erforderlichen Backsteine für die Ringofenanlage vom Bahnhof Rheinberg nach Lintfort abzufahren". Die "Kleinheide" westlich der späteren Schulstraße war seinerzeit ein von der Großen Goorley durchflossenes und teilweise mit Schlagholz bestandenes Niederungsgebiet. Entscheidend für die Wahl dieses Standortes in der Gemeinde Lintfort dürften neben bergtechnischen Erwägungen auch seine Lage an den Straßenverbindungen nach Camp, Rheinberg und Moers gewesen sein.
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Für das Jahr 1907 begann man- begleitet von weiteren Landaufkäufen, einem entsprechenden Anstieg der Bodenpreise und gelegentlichen Inventarverkäufen wegen "gänzlicher Aufgabe der Ackerwirtschaft" - mit den Abteufarbeiten und dem Bau der Tagesanlagen. Mit dem Aufkauf der benötigten Ländereien wurden die Herren Döppners und Vollperich beauftragt, die zunächst wenig Erfolg hatten. Bald aber stiegen die Preise und ein Morgen Ackerland kostete nun statt 150-170 Taler 600-1.200 Taler. Man bot den Besitzern Austauschhöfe am Niederrhein oder in Oldenburg ant. Aufgrund der hohen angebotenen Preise für das alte Anwesen war der Tauschhof in der Regel zwei- bis dreimal so groß.
Die Arbeiter wohnten zunächst in Baracken auf dem Werksgelände sowie in Kosthäusern in Kamperbrück, während die Angestellten meist in Rheinberg Quartier bezogen. Die Arbeiterschaft der Friedrich Heinrich AG bestand zur Mitte des Jahres 1907 fast ausschließlich aus Ausländern, die - ebenso wie die neue Industrie überhaupt - von der eingesessenen und niederfränkisch sprechenden Bevölkerung mit großem Mißtrauen betrachtet wurden. Der wirtschaftliche, soziale, politische und städtebauliche Wandel, der mit der bergbaulichen Industrialisierung einherging, war jedoch nicht mehr aufzuhalten. Die ländlichen Streusiedlungen Camperbruch und Lintfort wurden binnen kurzer Zeit zu industriellen Inseln in einer weiterhin agrarisch geprägten Umgebung.
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Die ersten Ansichtskarten von Kamp-Lintfort
Um die Jahrhundertwende erschienen auch die ersten Vorläufer der Ansichtskarten. Dies waren die "Gruß aus ..."-Karten, die noch keine Bildpostkarten waren. Im Folgenden stellen wir eine Auswahl vor: |
Grußkarte aus Camp, aufgegeben am 07.07.1897 / 1-8 Uhr in Camp mit Ankunftstempel aus Oestrum vom 7.7.1897 / 3-4 Uhr nachmittags
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Grußkarte, frankiert mit 5 Pfg. der Reichspost und entwertet mit Einkreisstempel von Camp am 26.07.1897
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Camper Grußkarte, am 24.01.1899 in Issum aufgegeben; der Ankunftstempel in Oestrum datiert vom 25.1.1899
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Eine der ältesten Bildpostkarten aus Camp stammt aus dem Jahre 1904: |
Grußkarte von Camp aus dem Jahre 1904 mit dem Kloster und Hotel Bieger sowie dem "Haus Fliege"
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Ebenfalls um 1900 entstand die folgende Bildpostkarte von Camp: |
Grußkarte aus Camp um 1900; links oben ist das Rathaus an der Rheinberger Straße, rechts der Gasthof Bovenschen (später Kleinlosen) und auf dem unteren Bild die Abteikirche mit Pfarrhaus abgebildet
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Diese am 1.7.1901 nach Crefeld verschickte Ansichtskarte hat als Titel "Gruß aus Camp, Hotel-Restaurant Bieger"
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Diese Postkarte um 1900 zeigt unten die Fossa Eugeniana und die Rheinberger Straße mit dem Restaurant Croonenbroeck (das heute Baaken heißt)
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Grußkarte aus Camp, die am 11.8.1903 von Moers nach Berlin-Wilmersdorf geschickt wurde und dort am 12.8.03 / 9 ½-11 ¼ Uhr ankam
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Grußkarte von Camp aus der Zeit um 1908
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Kurz nach der Jahrhundertwende gab es dann auch in Hoerstgen Grußkarten, wie die Karte aus dem Jahre 1903 belegt. Die Karte befand sich im Besitz von Herrn Schnapp, Landwirt in Hoerstgen. |
Grußkarte aus Hoerstgen aus dem Jahre 1903
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Grußkarte aus Hoerstgen aus dem Jahre 1904
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Eine weitere Grußkarte von Hoerstgen aus dem Jahre 1906 zeigt die Motive Gastwirtschaft zur Post, Molkerei und Dampfmühle, Kirche mit Dorfstraße, Hauptgebäude Schloß Frohnenbruch: |
Ansichtskarte aus dem Jahre 1906 mit Hoerstgener Motiven
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Um die gleiche Zeit herum entstand diese Ansichtskarte mit der Darstellung von Schloß Frohnenbruch, der Kirche und einer Gesamtansicht; interessanterweise befindet sich die Mühle oben rechts auf der falschen Straßenseite
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Diese Postkarte wurde 1910 in Hoerstgen abgestempelt und ist insofern eine Rarität, als sie u.a. die 1931 abgerissene Hoerstgener Synagoge zeigt, die nur noch bis 1908 zu religiösen Zwecken genutzt worden war
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Jacques Wiener - der Gravuer aus Hoerstgen
Über die Ursprünge der jüdischen Bevölkerung in Hoerstgen |
Mit Jacob Wiener wurde am Morgen des 27. Februar 1815 in dem ärmlichen Dorf Hoerstgen ein jüdisches Kind geboren, das später - ab 1840, als anläßlich der Rückkehr Venlos unter die niederländische Herrschaft seine erste Münze erschien - vor allem als Graveur von Münzen und Medaillen europaweit zu Ruhm gelangen wird.
Nur sehr wenig ist jedoch bisher über Jacob Wieners Herkunft aus dem heutigen Kamp-Lintforter Ortsteil Hoerstgen sowie über sein dortiges familiäres und soziales Umfeld bekannt. Wie lange die Vorfahren Jacobs, die ursprünglich aus Ostpreußen stammen sollen, bereits in Hoerstgen gelebt haben, läßt sich zwar nicht mit Sicherheit sagen. Allerdings weiß man heute, daß die Anfänge der jüdischen Siedlung in der reformierten Herrschaft Hoerstgen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts liegen.
Beispielsweise wird in den aus dieser Zeit nur sehr spärlichen Quellen erwähnt, daß 1741 der jüdische Geschäftsmann Wolff Levi aus Hoerstgen die Leipziger Messe besuchte! Die systematische Ansiedlung einer größeren Zahl von Schutzjuden fällt dann in die Regierungszeit der seit 1749 verwitweten Reichsfreifrau Christina Charlotta Elisabeth von Myllendonk auf Haus Frohnenbruch. Im Jahre 1759 nämlich ließ sie die ersten bescheidenen "Judenhäuser" an der heutigen Dorfstraße errichten. Der Bau weiterer Judenhäuser und der ersten Synagoge folgte 1761. Die aus sehr verschiedenen Regionen stammenden jüdischen Familien, die sich nun gegen Zahlung besonderer Schutzsteuern verstärkt in dem Kleinststaat Hoerstgen niederließen, fristeten ihren bescheidenen Lebensunterhalt in aller Regel dadurch, daß sich die jeweiligen "Familienhäupter" als Hausierer, Schrotthändler oder Metzger betätigten.
Als Jacob Wieners Großeltern zu nennen sind der Metzger Mathias Wiener (1746 - nach 1808) alias Mayer Levy und seine Frau Rosine (um 1755 - nach 1808) alias Reis Israel sowie als seine Eltern der sich selber als "Handelsmann" bezeichnende Marcus Wiener (1794 - ?) alias Marcus Mayer und dessen Ehefrau Hanna Baruch (1791 - ?). Der Großvater wird 1790/91 in einer Liste der jüdischen Tributpflichtigen der Herrschaft Hoerstgen unter der laufenden Nummer 15 namentlich aufgeführt. 1799 lebte er mit seinen Angehörigen als Mieter im Hause des Tagelöhnerehepaars Peter und Gertrud Maas.
Dem Einwohnerverzeichnis der Gemeinde Hoerstgen für das Jahr 1801 ist zu entnehmen, daß der "Schlächter" Mayer Levy mit seiner Familie nunmehr bei einem namens Willems zur Miete wohnte. Der Anteil der Juden an der Einwohnerschaft der kleinen Bürgermeisterei Hoerstgen lag zu diesem Zeitpunkt im übrigen mit 107 Personen bei gut 22 Prozent. In der gesamten Region ist für das frühe 19. Jahrhundert kein auch nur annähernd vergleichbarer Wert bekannt! |
Die Annahme des erblichen Familiennamens Wiener durch den Großvater |
Nach jüdischer Tradition erhielten Kinder den Vornamen des Vaters als Nachnamen. Durch das kaiserliche Dekret vom 20. Juli 1808 wurde jedoch den Juden in den linksrheinischen Gebieten die Annahme fester Familiennamen aufgegeben. Am 8. Dezember 1808 nahm der Großvater Mayer Levy vor dem Hoerstgener Bürgermeister und Standesbeamten Eberhard Keller für sich, seine Frau und seine drei lebenden Kinder Marcus (Mordechai, Mortje), Abram und Reis Mayer verbindlich den erblichen Nachnamen "Wiener" an.
Mayer Levy, der, was zu dieser Zeit keineswegs unüblich war, nicht schreiben konnte, hieß fortan Mathias Wiener. Seine Frau trug nunmehr den Namen Rosine Wiener, während die Kinder die Namen Marcus, Abraham und Therese Wiener erhielten. Bei dieser Gelegenheit erfährt man auch, daß Jacobs Vater Marcus Wiener am 10. Januar 1794 in Hoerstgen geboren wurde.
Insgesamt entschieden sich Ende 1808 in Hoerstgen neun offensichtlich eng miteinander verwandte jüdische Einwohner für den Namen "Wiener", der auf eine Herkunft der Vorfahren aus der Stadt Wien verweist. Dies betrifft neben der fünfköpfigen Familie von Marcus noch die folgenden und in einem eigenen Haushalt lebenden Personen: Abram Levy (1753 - 1831), der später nach Issum abwanderte, und seine Schwester Jette Levy (jetzt: Abraham und Henriette Wiener), wobei es sich bei beiden vermutlich um Geschwister von Mayer Levy handelt, die 1790 in Hoerstgen als Tochter von Abraham geborene Jette Abram (jetzt: Henriette Wiener) sowie die Witwe Heele Salomon, die früher mit Jacob Levy verheiratet war und 1814 als Helena Wiener hochbetagt in Hoerstgen verstarb. |
Über die Eltern von Jakob Wiener |
Bereits im Sommer des Jahres 1813 schickte sich der noch minderjährige Kaufmann ("marchand") Marcus Wiener an, auswärts die Ehe einzugehen, und zwar mit der drei Jahre älteren Hanna (Jeanne, Johanna, Jeanette) Baruch aus Aachen. Vorangegangen war die übliche einjährige Verlobungszeit. Den beiden in der Gemeinde Hoerstgen sowohl in deutscher und als auch in französischer Sprache vorgenommenen standesamtlichen Heiratsverkündigungen vom 27. Juni und vom 4. Juli 1813 läßt sich entnehmen, daß Hanna die eheliche Tochter des Aachener Graveurs und Siegelstechers Kivit Baruch und der Näherin ("couturière") Lotte Levy war.
Die Familie war aus dem niederländischen Fauquemont (Falkenberg) nach Aachen zugezogen. Hanna Baruch selber, geboren im Juli 1791 in Fauquemont, war die älteste Tochter und das zweitälteste Kind von insgesamt sechs Kindern der Familie. Hannas Bruder Loeb war wie sein Vater von Beruf Graveur. Über Jacob, Sara, Mina und Rebecca haben sich demgegenüber keine näheren Informationen überliefert. Hanna Baruch betätigte sich in Aachen als Stickerin ("brodeuse"). Nach der Eheschließung, die in Aachen stattfand, nahmen der Metzgersohn und die Graveurstochter ihren ersten gemeinsamen Wohnsitz im niederrheinischen Hoerstgen.
Jacob Wiener war das erste von insgesamt zehn Kindern, von drei Mädchen und sieben Jungen, und erhielt seinen Vornamen wahrscheinlich nach seinem Onkel mütterlicherseits. Zeugen bei der standesamtlichen Beurkundung seiner Geburt durch den Hoerstgener Bürgermeister Johann Heinrich te Kolck genannt Kleineschay waren die Nachbarn und Brüder Benedict Goldstein (1788 - ?), 27 Jahre alt und Kaufmann in Hoerstgen, und der 45jährige Hertz Goldstein (um 1773 - ?), Metzger in Hoerstgen.
Die Geburtsurkunde seines Sohnes, die bis heute im Standesamt der Stadt Kamp-Lintfort aufbewahrt wird, unterschrieb Marcus Wiener ebenso wie Benedict Goldstein in - wenn auch etwas ungeübter - lateinischer Schrift, während sich Hertz Goldstein traditionsgemäß der hebräischen Schrift bediente.
Bereits 1817 jedoch, kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes Baruch (1816 - ?), verzog die Familie von Marcus und Hanna Wiener, die bei der Witwe Batz Wohnung genommen hatte und 1816 "in der Haupt-Straße", also in einem Haus an der Dorfstraße, lebte, von Hoerstgen nach Venlo in die dortige Steenstraat. Die jüdische Siedlung in Hoerstgen hatte zu dieser Zeit ihren Höhepunkt bereits überschritten; der Anteil der Juden an der Hoerstgener Einwohnerschaft war innerhalb nur weniger Jahre vor allem durch Abwanderung von 22 % bis auf 9 % abgesunken. Die von der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen getragene Abwanderung aus dem ländlichen Hoerstgen in niederländische Städte kommt unter der jüdischen Bevölkerung Ende des 18. und im frühen 19. Jahrhundert durchaus häufiger vor. |
Von Venlo über Paris nach Brüssel |
Im Alter von 13 Jahren verließ Jacob Wiener sein Elternhaus in Venlo, um in Aachen bei Loeb Baruch, dem ältesten Bruder seiner Mutter, der dort 1812 als Inhaber eines Patentes aufgeführt wird, eine Lehre als Graveur anzutreten. In der mütterlichen Familie, die aus Ungarn stammen soll und im Zuge religiöser Verfolgungen in der Heimat schließlich über Bonn und Fauquemont (Falkenberg) nach Aachen gelangt war, waren somit durch die Person des Großvaters Kivit und des Onkels Loeb, die sich später allerdings als Kurzwarenhändler betätigte, die maßgeblichen Anlagen für seinen weiteren beruflichen Werdegang gelegt worden. Nach einem anschließenden vierjährigen Aufenthalt in Paris, wo er seine Kenntnisse vertiefte, zog es ihn 1839 nach Brüssel. Dort wurde ihm 1845 die belgische Staatsangehörigkeit verliehen. Ebenfalls 1845 heiratete er in Brüssel Annette Levy Newton.
Am 17. November 1848 erschien unter maßgeblicher Beteiligung von Jacques Wiener die erste belgische und am 1. Januar 1851 die erste niederländische Briefmarke. Aufgrund der Überanstrengung der Augen beim ständigen Arbeiten mit der Lupe wird Wieners Sehkraft ab 1868 immer schlechter; 1872 ist er bereits nahezu erblindet. Eine Operation hilft nur vorübergehend, so daß 1877 das Augenleiden seinem Schaffen als Graveur ein vorzeitiges Ende setzt. Jacques Wiener, der Träger des preußischen schwarzen Adlerordens war, verstarb am 3. November 1899 in Brüssel.
Jacob Wiener hatte neben seinem noch in Hoerstgen geborenen ältesten Bruder Baruch (1816 - ?) weitere acht Geschwister: Leopold (1823 - 1891) und Karel oder Charles (1832 - 1888), Salomon, Henriette, Alexander Maurits, Rosette, Sophie und Meyer. Leopold, der mit Sara Levy Newton verheiratet war, und Charles waren beide ebenfalls sehr erfolgreich als Graveure tätig, wobei Leopold Chefgraveur der belgischen Münze wurde und letzterer zum Chef der portugiesischen Münze aufstieg, Aus Jacob Wieners Ehe mit Annette Newton sind mindestens vier in Brüssel geborene Kinder hervorgegangen: Helene (1846 - ?), Alexander (1848 - ?), Edouard Samson (1850 - 1930), der Anne Jesse Spielmann heiratete, und schließlich Samson (1852 - 1914).
Im Jahre 1987 - aus Anlaß des "Tages der Briefmarke" - würdigte die belgische Post das Lebenswerk des gebürtigen Hoerstgeners mit der Herausgabe einer 13-Francs-Sonderbriefmarke. Bald darauf erinnerte man sich auch in Kamp-Lintfort des berühmtesten Sohnes der Stadt.
Als erster machte der im Ortsteil Hoerstgen wohnende Sonderschulrektor und Stadtgeschichtsforscher Rolf-Günter Pistor († 1989) einen kleinen Kreis von ortgeschichtlich Interessierten auf Jacob Wiener aufmerksam. Ende 1989, anläßlich des 90. Todestages, folgte in Kamp-Lintfort dann die von anderer Seite vorbereitete Ausstellung "Jacques Wiener - Europa in Münzen, Medaillen, Briefmarken". |
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